BAG zu Beweiswert von AU-Bescheinigungen nach Kündigungen

| Arbeitsrecht

Hintergrund

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder der „gelbe Schein“ ist außerhalb juristischer Fachkreise wohl allen Berufstätigen ein Begriff. Im Falle krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit dient dieses Attest zum Beweis und damit zur Sicherung ihrer Lohnfortzahlungen. Nicht selten ergeben sich in der Praxis für Arbeitgeber Zweifel an der Richtigkeit einer AU-Bescheinigung.

Der Fall der niedersächsischen Lehrerin Viktoria Volk lieferte der breiten Öffentlichkeit im Jahre 2016 ein Paradebeispiel für eine Konstellation, in der erhebliche Zweifel an der Richtigkeit einer AU-Bescheinigung auftraten. Nachdem der Pädagogin kein Sonderurlaub gewährt wurde, reichte diese beim Schulleiter eine AU-Bescheinigung für den Zeitraum ein, in welchem sie ihre Tochter zur Aufzeichnung der RTL-Sendung „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ nach Australien begleitete. Obwohl sie mehrfach im Fernsehen zu sehen war und dort sogar interviewt wurde, berief sich die Mathelehrerin auf ihre krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit – ohne Erfolg.

In seinem Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – (derzeit nur Pressemitteilung) hatte sich das Bundesarbeitsgericht nun erneut mit Fragen des Beweiswertes von AU-Bescheinigungen zu befassen.

Sachverhalt

Der Kläger war seit März 2021 als Helfer bei der Beklagten, einer Zeitarbeitsfirma, beschäftigt. Am Montag, 2. Mai 2022, legte der Kläger eine AU-Bescheinigung für die Zeit vom 2. bis zum 6. Mai 2022 vor. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 2. Mai 2022, welches dem Kläger am 3. Mai 2022 zuging, zum 31. Mai 2022.

Mit Folgebescheinigungen vom 6. und 20. Mai 2022 wurde die Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 31. Mai 2022, einem Dienstag, bescheinigt. Am 1. Juni 2022 war der Kläger arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Die Beklagte verweigerte daraufhin eine Entgeltfortzahlung und brachte vor, der Beweiswert der AU-Bescheinigungen sei erschüttert. Der Kläger widersprach der Beklagten und entgegnete, er sei bereits vor Zugang der Kündigung arbeitsunfähig gewesen.

Rechtliche Einordung

Nach § 3 Abs. 1 EFZG haben Arbeitnehmer:innen, die durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an der Arbeitsleistung gehindert sind, ohne dass diese ein Verschulden trifft, einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist der Arbeitnehmer grundsätzlich darlegungs- und beweispflichtig.

AU-Bescheinigungen im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG sind das gesetzlich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Ihnen wir deshalb ein hoher Beweiswert beigemessen. Der Beweiswert ist allerdings nicht absolut, sondern kann durch den Arbeitgeber erschüttert werden. Grundsätzlich müssen dafür tatsächliche Umstände dargelegt werden, welche Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben.

Eine brisante Fallgruppe bilden AU-Bescheinigungen für den Zeitraum der Kündigungsfrist. Im Kündigungsfall führt nicht selten der erste Weg zum Arzt des Vertrauens. Unweigerlich beschäftigen diese Konstellationen auch die Arbeitsgerichte.

Laut Urteil des BAG vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 – können sich ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung daraus ergeben, dass eine am Tag der Eigenkündigung des Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt. Diese Umstände führten nach Auffassung des BAG zur Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Auch der Text einer Eigenkündigung in Verbindung mit einer kurz vorher eingereichten Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmerin sind geeignet, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, wie das LAG Schleswig-Holstein mit Urteil vom 2. Mai 2023 – 2 Sa 203/22 – entschied. Die Arbeitnehmerin hatte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt, die passgenau die Kündigungsfrist und den Zeitraum der Entgeltfortzahlung abdeckten. Zudem bat die Arbeitnehmerin in ihrem Kündigungsschreiben um die Zusendung der Kündigungsbestätigung, der Arbeitspapiere sowie eines qualifizierten Arbeitszeugnisses an ihre Privatadresse. Sie bedankte sich dabei für die bisherige Zusammenarbeit und wünschte dem Unternehmen alles Gute. Das Gericht schloss aus dieser Formulierung, dass die Arbeitnehmerin bereits beim Verfassen des Kündigungsschreibens nicht die Absicht hatte, erneut in den Betrieb zurückzukehren.

Im vorliegenden Fall entschied das LAG Niedersachsen am 8. März 2023 – 8 Sa 859/22 – als Vorinstanz, es fehle an einem Kausalzusammenhang zwischen Arbeitsunfähigkeit und Kündigung, da sich der Arbeitnehmer hier zunächst krankmeldete und erst danach eine arbeitgeberseitige Kündigung erhielt. Auch die Arbeitsaufnahme im direkten Anschluss an die Arbeitsunfähigkeit erschüttere den Beweiswert nicht.

Entscheidung

In seinem Urteil hält das BAG fest, dass es zur Bewertung von Beweiserschütterung stets einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls bedürfe. Irrelevant sei dabei, ob es sich um eine Kündigung des Arbeitnehmers oder des Arbeitgebers handele. Der Vorinstanz sei insoweit zuzustimmen, als dass der Beweiswert der Bescheinigung vom 2. Mai 2022 nicht erschüttert sei.

Der Beweiswert der AU-Bescheinigungen vom 6. Mai und vom 20. Mai sei aber sehr wohl erschüttert. Dies ergebe sich aus der zeitlichen Koinzidenz der passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist sowie aus dem Umstand, dass der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnahm. Dies habe zur Folge, dass der Kläger für die Zeit vom 7. bis zum 31. Mai 2022 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung zur Entgeltfortzahlung trage.

Konsequenzen für die Praxis

Nach der höchstrichterlichen Entscheidung aus dem Jahre 2021 (s.o.) schlägt auch die aktuelle Entscheidung weitere Pflöcke zur Würdigung der Gesamtumstände in gleichgelagerten Konstellationen ein. Dies ist zu begrüßen, denn Arbeitgeber werden im Falle einer Kündigung sehr häufig postwendend mit der „Arbeitsunfähigkeit“ des betroffenen Arbeitnehmers konfrontiert. Diese Ausgangslage macht es für den Arbeitgeber schwer, Krankheitsursachen fundiert zu hinterfragen.

Arbeitnehmer:innen werden durch die Entscheidung aber keineswegs schutzlos gestellt. Die Erschütterung des Beweiswerts einer AU-Bescheinigung hat lediglich zur Folge, dass die Betroffenen weiter beweisbelastet für ihre krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit sind. Sind diese also tatsächlich erkrankt und weisen dies auch nach, so besteht ihr Anspruch auf Fortzahlung des Lohnes weiter. Der Nachweis kann u.a. durch tiefergehende Darlegung der Krankheitsumstände gelingen. Arbeitnehmer:innen müssen zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welchen konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit bestanden haben.

Schlussendlich sollten Arbeitgeber bei AU-Bescheinigungen im Zusammenhang mit Kündigungen genau hinschauen. Das Verhalten des Arbeitnehmers ist ganzheitlich zu betrachten. Das BAG liefert zwar keine abstrakten Rechtssätze, wohl aber eine Indiz-Palette, die sich jeder Arbeitgeber zu nutzen machen sollte.

Gerne beraten wir Sie dazu im Einzelfall.

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Autor*in dieses Artikels:

Dr. Uwe Simon

Rechtsanwalt,
Fachanwalt für Arbeitsrecht

+ Vita

Schwerpunkte:

  • Arbeitsrecht
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  • Betriebsrentenrecht